Weizen Ernte 2022 – ein Appell aus aktuellem Anlass!
Aus aktuellem Anlass veröffentlichen wir an dieser Stelle eine differenzierte Stellungnahme zum Thema Weizen. Wir hoffen, dass dieser Beitrag konstruktive Diskurse sowie den notwendigen Wandel fördert, der die im Appell angesprochenen Sachverhalte rund um das derzeit im Fokus stehende Grundnahrungsmittel WEIZEN betrifft.
Anpassung der Qualitätsbewertung und Ernährungssicherheit durch regionale Versorgungsstrukturen
1. Intro
Über die Umstände der „Weizenproduktion“ und die drohende Verschärfung der Hungerkrisen wird seit der Ukraine-Krise in allen Medien berichtet. Die Hintergründe für die Preisentwicklung – sowohl der Erzeuger- als auch der Verbraucherpreise – werden selten betrachtet. Noch weniger im Blickfeld steht eine sichere regionale Versorgung der Bevölkerung mit diesem Grundnahrungsmittel – weder in den Ländern des Südens noch bei uns. Gänzlich unter dem Radar stehen Erkenntnisse, welche Qualitäten notwendig sind, um gesundes Brot für die menschliche Ernährung backen zu können. Müssen es die durch hohen Düngereinsatz auf hohen Eiweißgehalt getrimmten Weizenmengen sein oder geht es auch anders? Und wie notwendig ist die Förderung regionaler Netze für eine zukunftsgerichtete Entwicklung? In diesem Appell steht, was jetzt getan werden muss.
Weizen global
Im Januar 2022, bereits deutlich vor dem Aussaatzeitpunkt des Sommerweizens, hatte der Lebensmittel-Preisindex[1] der Welternährungsorganisation FAO einen Stand erreicht, der den Preishöchststand der Lebensmittelkrise von 2008 übertraf. „Vor diesem Hintergrund war es unvermeidlich, dass ein Versorgungsschock, der zwei der wichtigsten Getreideexportländer der Welt betrifft, die globalen Märkte in gewissem Maße destabilisieren würde“[2], heißt es in einem im Mai veröffentlichten Bericht des Internationalen Expertengremiums für nachhaltige Lebensmittelsysteme (IPES-Food). Olivier De Schutter, Ko-Vorsitzender von IPES-Food und früherer UN-Sonderberichterstatter für extreme Armut und Menschenrechte, stellt fest: „Wenn man sich bei der weltweiten Lebensmittelversorgung weiterhin auf eine Handvoll Agrarrohstoffe und Länder verlässt, ist das in Kombination mit räuberischen Finanziers, die auf Nahrungsmittel wetten, ein Rezept für eine Katastrophe“.
Dass die Lebensmittelpreise seit der Corona-Pandemie und infolge des Kriegs gegen die Ukraine in exorbitante Höhen schnellten und verstärkt das Gespenst des Hungers umgeht, wäre durch eine längst überfällige Reform der Ernährungssysteme zu verhindern gewesen, erläutern führende Agrar- und Ernährungsexpert*innen.1
Im Juli 2022 verzeichnete der FAO-Lebensmittelpreisindex einen starken Rückgang. Auch die internationalen Weizenpreise fielen im Juli 2022 um bis zu 14,5 Prozent. Dennoch lagen sie um 24,8 Prozent über ihrem Wert vom Juli 2021.[3] Hohe Weltmarktpreise verschärfen weiterhin den Hunger und die Mangelernährung, solange viele Staaten von Weizenimporten abhängig sind.
Weizen lokal
Mit Blick auf die Resilienz regionaler Lieferketten bestätigt sich in der Praxis erneut, dass langfristige Kooperationen der Volatilität globaler Märkte entgegenwirken können. Etwa durch Anbau bestimmter Sorten, differenzierte Qualitätsprofile und zumindest kostendeckende Preise. Selbstverständlich müssen auch in diesen Strukturen steigende Kosten (Energie, Löhne, Rohstoffe) oder Leistungen für den Erhalt von Ökosystemen eingerechnet und gedeckt, beziehungsweise weiter gegeben werden.
Die Weizenpreise an der Pariser Terminbörse indes stiegen von 263 €/t am 16. Februar mit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine bis zum 7. März steil auf 422,50 €/t an, erreichten dann Mitte Mai einen erneuten Höchstwert von 438,25 €/t und sind seitdem mit kurzzeitig kleinen Ausschlägen nach oben bis zum 24. August wieder auf 327 €/t gesunken.[4]
Zunächst einmal hatte der Anstieg der Getreidepreise einen positiven Effekt für Landwirt*innen in Deutschland. Der Preis für Speiseweizen gelangte damit endlich wieder in einen Bereich, der für die Breite der Erzeugerbetriebe kostendeckend und somit motivierend für den Anbau von Backweizen ist. Der größte Teil des Preisanstiegs lässt sich vor dem Hintergrund der hohen Konzentration des weltweiten Getreidehandels, übermäßiger Rohstoffspekulation, dem Anstieg der Preise für Düngemittel und Energie sowie logistischer Probleme erklären.
2. Weizenernte und Ernteergebnisse 2022
Bereits zu Beginn der Erntezeit wurde mit den ersten Ernteergebnissen die Ansicht verbreitet, in Deutschland könne nun, aufgrund der gemäß der geltenden Düngeverordnung reduzierten Stickstoff-Düngung, kein backfähiger Weizen mehr erzeugt werden. Das ist falsch. Richtig ist, dass z.T. lokal die Rohproteinwerte von Weizen hinter den üblichen Ergebnissen zurück geblieben sind. Diese Tatsache betrifft konventionell wie ökologisch angebauten Weizen.
Zwei Faktoren tragen zu den Ergebnissen der Weizenernte bei
Extreme Dürre, Hitzestress und überdurchschnittliche Anzahl an Sonnenstunden
Der Dürremonitor des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung hat die großflächig mangelnde Bodenfeuchte in großen Teilen Deutschlands erfasst und veranschaulicht.[5] Dieser Mangel an Bodenfeuchteund die extreme Hitzeinfolge der drastischen Klimaveränderungen sind für die unterdurchschnittlichen Rohproteinmengen in Teilen des Landes verantwortlich.
In vielen Regionen wurde der Weizen aufgrund von drei sogenannten abiotischen Stressfaktoren (Trockenheit, Hitze, hohe Zahl an Sonnenstunden) deutlich früher als üblich geerntet, was die Erträge jedoch nicht verringerte. Ohne ausreichendes Wasser im Boden bleibt allerdings Stickstoff, ob organischer oder mineralischer Herkunft, ungenutzt im Boden liegen, d.h. er mineralisiert nicht. Wo dies der Fall ist, können die Pflanzen in der Kornfüllungsphase nicht ausreichend Stickstoff aufzunehmen. Dies führt im Ergebnis zu geringeren Proteinwerten.[6]
Übrigens: So entstehende Nährstoffüberschüsse haben wiederum negative Auswirkungen auf die Grundwasserqualität und Artenvielfalt und erhöhen die Treibhausgasemissionen.
Anstieg der atmosphärischen Kohlendioxid (CO2)-Konzentration
Das Forschungsprojekt „Prozessverständnis von CO2-induzierten Mechanismen für Ertrag und Ertragsqualität ausgewählter Weizengenotypen im Feld“ der Deutschen Forschungsgesellschaft kam zu dem Schluss: „Neben den primär düngenden Effekten der CO2-Erhöhung auf Erträge von Kulturpflanzen können jedoch auch negative Folgen auf die Ertragsqualität von Weizen auftreten. Wir konnten zeigen, dass eine Erhöhung der CO2-Konzentration (um 150 µmol mol^-1 über die heutigen Umgebungskonzentrationen) […] den Ertrag von Weizen um etwa 10 % erhöht. Gleichzeitig kam es zu subtilen, aber wichtigen Veränderungen in der Qualität der Weizenkörner, wie z.B. verringerte Proteinkonzentrationen, die ca. -10% betrugen, verringerte Konzentrationen wichtiger Mineralien (z.B. Eisen) und, wie wir zum ersten Mal zeigen konnten, erhebliche Veränderungen in der Proteinzusammensetzung.“ Weiter heißt es, „Hitzestress hatte im Vergleich zur CO2-Anreicherung den gegenteiligen Effekt auf den Kornertrag – es kam zu einer deutlichen Ertragsminderung.“[7] Zudem haben die Wissenschaftler*innen festgestellt, dass die Gefahr der Fehlernährung wächst. Erhöhte Kohlendioxid-Konzentrationen führen beim Weizen zu sinkenden Gehalten an Calcium, Eisen, Magnesium, Zink und Aminosäuren. Das heißt, dort wo Weizen ein bedeutendes Grundnahrungsmittel ist, wächst die Gefahr der Fehlernährung.
Der erste Faktor – extreme Dürre und das Austrocknen der Böden – führt darüber hinaus dazu, dass Pflanzen ihre Aktivität reduzieren um Wasser zu sparen, d.h. sie reduzieren ihre Photosynthese. Dies bewirkt, dass die Konzentration von Kohlendioxid in der Atmosphäre noch schneller ansteigt.[8]
Forderungen nach einer Intensivierung der Landwirtschaft, um die „Welt zu ernähren“, sind in dieser Situation verfehlt und ignorieren die Ursachen des Klimawandels und dessen Folgewirkungen. Zu diesen gehören auch die Beeinträchtigung der Qualität von Weizen sowie Ernteausfälle (in diesem Jahr voraussichtlich besonders bei Zuckerrüben, Mais und Kartoffeln).
3. Bewertungsmaßstäbe, Handel und Verarbeitung
Der Bewertungsmaßstab „Rohproteingehalt“ sowie der „Rapid-Mix-Test (RMT)“, mit dem das erzielbare Gebäckvolumen von Weizenmehl bestimmt wird, liefern nicht in ausreichend zutreffendem Maße die Information, ob sich in der Praxis aus einem bestimmten Weizenmehl sensorisch gute Brote und Gebäcke mit dem gewünschten Volumen herstellen lassen. „Bei modernen Weizensorten (seit 1990 zugelassen) wurden die Korrelationen zwischen den Ergebnissen des RMT und indirekten Qualitätsparametern, wie z. B. Proteingehalt und Sedimentationsvolumen, immer schwächer [FREIMANN, 2005; SELING, 2010]. Somit ist derzeit die Vorhersage der Backqualität deutlich erschwert und unzuverlässig.“[9]
Es gibt eine Reihe von Weizensorten am Markt, ob aus der biologischen oder konventionellen Züchtung, die mit Mehl-Proteingehalten von z.T. deutlich unter 13 % Rohproteingehalt „sehr gute“ Backqualitäten (definiert mit ≥ 660 ml Volumen/100g Mehl) liefern. Entscheidender, ob sich aus einem Weizenmehl sensorisch gute und sehr gute Backwaren herstellen lassen, ist die Qualität des Kleberproteins (Feuchtkleber). Sie wird maßgeblich von der Genetik der Weizensorte bestimmt. Fest steht bereits jetzt, dass die Auswahl der Sorte beim Anbau von Qualitätsweizen, insbesondere auch im Hinblick auf Nachhaltigkeitsaspekte, in Zukunft eine noch größere Rolle spielen wird.
Aus Sicht der Praktiker*innen bedarf die Beurteilung der backtechnischen Funktionalität von Weizen dringend einer Neubestimmung der indirekten Bewertungsparameter und eines optimierten Backtests. Dieser direkte Qualitätstest muss sich an der Praxis der Teigherstellung orientieren und ermöglichen, genaue Vorhersagen über die erzielbare Produktqualität zu machen. Diese Notwendigkeit ist seit vielen Jahren hinreichend bekannt.
Im Zusammenhang mit Kritik an der neuen Düngeverordnung und mit Diskussionen zur Reduzierung der Stickstoffdüngung wird immer wieder auf die Behauptung zurückgegriffen „Bäcker fordern hohe Rohproteinwerte“. Dazu: Lediglich für die Herstellung bestimmter Weizenbackwaren aus Auszugsmehl werden hohe Gehalte an Kleberprotein (Feuchtkleber) mit hoher Teigstabilität (Knet- und Gärtoleranz) benötigt. Dazu zählen beispielsweise luftig-voluminöse Schnittbrötchen aus Auszugsmehl, die als Teiglinge gekühlt oder eingefroren und auf Abruf von früh bis spät in Backshops und Ladenbacköfen gebacken werden. Diese haben weder einen hohen, nachhaltigen Sättigungswert noch sollten sie aus ernährungsphysiologischen Gründen täglich im Einkaufskorb landen.[10] Generell trifft die oben genannte Behauptung nicht zu.
Dennoch wird, insbesondere im Handel mit konventionell erzeugtem Getreide, weiterhin der Rohproteingehalt als der Bewertungsmaßstab verwendet und entscheidet somit über den Auszahlungspreis für Weizen. Dieses Kriterium ist aber weder ausreichend zweckdienlich noch mit notwendigen Nachhaltigkeitskriterien vereinbar. Erklärlich ist diese Blockadehaltung des Handels im besten Fall nur damit, dass bei international gehandeltem Weizen der Proteingehalt über den Preis bestimmt und Weizen mit hohem Proteingehalt von anderen Ländern nachgefragt wird. Dazu kommt, dass bei der Erfassung der angelieferten Weizenmengen, insbesondere in und direkt nach der Ernte, der Proteingehalt schnell, einfach und kostengünstig zu bestimmen ist.
Dass es noch immer kein Testverfahren gibt, mit dem die Backqualität schnell, verlässlich und praxisnah zu bestimmen ist hat fatale Folgen: Landwirte und Landwirtinnen, sind wider besseres Wissen weiterhin ökonomisch gleichsam „gezwungen“, Weizen mit hohem Rohproteingehalten abzuliefern. Dies hat wiederum negative Folgen für das Klima, die Umwelt und somit für uns alle. Die sachgerechte Neubewertung der Backqualität von Weizen zeigt deutlich auf, dass mit geringeren Stickstoffmengen gute Qualitäten von Backweizen zu erzeugen sind.[11]
Es könnte schon längst anders sein! Nachgewiesen ist, dass Weizensorten mit hoher Kleber-Proteinqualität weniger Stickstoff benötigen, um sehr hohe Volumenausbeuten zu erzielen.[12] Auch die Erfahrungen in der Praxis zeigen, dass sich mit Weizensorten, die von ihrer Genetik her eine vorteilhafte Kleber-Qualität mitbringen und auch mit weniger Stickstoff ausreichende Proteinmengen bilden, Backwaren mit sehr gutem Backvolumen herstellen lassen – sogar ohne Verarbeitungshilfsstoffe.
Ein langsamer Fortschritt zeichnet sich dennoch ab. Bisher 2019 wurde der Rohproteingehalt einer Weizensorte bei der Zuordnung in die entsprechende Qualitätsgruppe (E, A, B, C) durch das Bundessortenamtes als eines der Kriterien eingesetzt. Das Bundessortenamt hat dies im Jahr 2019 geändert.
Aus Sicht des Berufsverbandes Die Freien Bäcker e.V. und vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus der Praxis, kann klar festgestellt werden, dass die gängige Praxis der Bewertung von Weizen anhand des Rohproteingehaltes seit Jahren reformbedürftig ist. Verlautbarungen wie „Bäcker fordern hohe Rohproteingehalte“ stehen auf der gleichen Stufe wie „Verbraucher fordern billige Lebensmittel“. Dies sind im besten Fall Mutmaßungen, die auch durch die permanente Wiederholung nicht in die Nähe solider, brauchbarer Aussagen gelangen.
Als Lösungsansatz wird in regionalen Bio-Wertschöpfungsketten die Backqualität von Weizen anhand der indirekten Parameter Feuchtklebergehalt, Sedimentationswert und Fallzahl (z.T. auch Glutenindex) bewertet. Zwischen Mühlen, Bäckereien und Landwirtschaftsbetrieben wird häufig auch vereinbart, welche Sorten angebaut und mit welchem Qualitätsprofil zu welchem Preis nach der Ernte abgenommen werden. Bevor Getreide aufgrund von witterungsbedingten Qualitätseinbußen ins Tierfutter geht, kann und sollte erst einmal genau geprüft werden, welche Mahlerzeugnisse und Gebäckarten dennoch daraus herzustellen und zu vermarkten sind. Dies betrifft die Mühlen wie auch die Bäckereien und setzt, neben umfassendem Wissen, eine gute Kommunikation der Wertschöpfungsketten-Partner*innen voraus. Die extremen Konzentrationsprozesse in der Mühlenwirtschaft einschließlich der weiteren Lücken in regionalen Wertschöpfungsketten (fehlende lokale und sachgerechte Lagerkapazitäten sowie Anlagen zur Trocknung, Reinigung und Entspelzung von Getreide) machen es den wenigen verbliebenen lokalen Mühlen allerdings oft schwer, Mehl über Qualitäts- und Nachhaltigkeitsmerkmale zu vermarkten statt über einen Preis, der letztendlich ihren eigenen Bestand gefährdet. Erläuternd ist hier auf die Folgen der Nicht-Einrechnung gesellschaftlicher (ökologischer und sozialer) Kosten sowie auf die durch Skaleneffekte erreichte Marktmacht großer Unternehmen zu verweisen. Bestehende Wettbewerbsungleichheiten führen dazu, dass bereits zehntausende von lokalen Verarbeitungsunternehmen vom Markt gedrängt wurden und es bestehende Unternehmen wie lokale Mühlen und Bäckereien schwer haben, sich am Markt zu behaupten.
Dennoch macht Einiges Mut und zeigt bereits wie es anders geht. Wenn etwa Witterungsverhältnisse die Backqualität beeinträchtigen, sind Bäcker*innen in kleinräumigen Strukturen, in denen es gute persönliche Kontakte entlang der Wertschätzungskette gibt, häufig bereit, ihr ganzes Know-how in die Waagschale zu werfen, um die Ernte dennoch zu verarbeiten. Vertrauen, Verbundenheit und Gemeinschaftssinn, die so entstehen, sind von großer Bedeutung um Krisen gemeinsam zu meistern und gestärkt daraus hervor zu gehen. Dies ist ein Baustein von resilienten, regionalen Versorgungsstrukturen.
4. Herausforderungen des Klimawandels in der Wertschöpfungskette Weizen anpacken!
Auch wenn die Analyse der Herausforderungen bedrohlich ist, stehen doch zahlreiche Maßnahmen zur Verfügung, diese Bedrohungen anzupacken und Anpassungen sowie Lösungsstrategien schnell auf den Weg zu bringen.
Dazu muss eine weitgehend plan- und mutlose Förderpolitik beendet und stattdessen notwendige Maßnahmen politisch und wo es notwendig ist finanziell gefördert werden. Hinzu kommt, was von hoher Bedeutung ist doch in der Regel vernachlässigt wird, dass auf Grundlage sachgerechter öffentlicher Aufklärung und Bildung die gesellschaftliche Tragfähigkeit der Maßnahmen gefördert wird. Denn – auch in Bezug auf unser Grundnahrungsmittel Weizen – heißt der Hauptfeind des dringend notwendigen Wandels auf allen Ebenen: Fehlendes Wissen und fehlende Wertschätzung von Leistungen für Mensch und Natur!
Nachhaltige Erzeugung von Weizen
Im Folgenden ein Überblick von möglichen Maßnahmen (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) die im oben beschriebenen Sinne förderlich sind, um auch zukünftig noch Weizen ernten zu können
Getreidezüchtung und Landwirtschaft
- Umsetzung der zahlreichen, möglichen Maßnahmen zum Erhalt und Aufbau von Humus, zur Vermeidung von Bodenerosionen und zur Verbesserung der Wasserspeicherfähigkeit, zur Erhöhung der Ertragsleistung (z.B. ganzjährige Bedeckung der Flächen, weite Fruchtfolge mit Anbau von Leguminosen, Mischanbau Getreide/Leguminosen, Agroforstsysteme, …)
- Entwicklung von Weizensorten, die mit den Folgen des Klimawandels zurechtkommen und mit weniger Stickstoff, bei guter Kleberprotein-Qualität, ausreichende Rohproteingehalte ausbilden
- Anbau anpassungsfähiger, robuster, stickstoffeffizienter Sorten
- Erhalt der Biodiversität auf dem Acker zur Absicherung zukünftiger Anpassungsstrategien, d.h. Anbau möglichst vielfältiger regional angepasste, entwicklungs- und nachbaufähige Sorten und heterogener Weizenpopulationen
- Erprobung veränderter Aussaatzeiten
Verarbeitung, Handel und Konsum
- Änderung des Systems zur Bewertung von Backweizen
- Weiterbildung von Müller*innen und Bäcker*innen – im Hinblick auf die Verarbeitung stickstoffeffizienter Sorten und ggf. veränderte Qualitätsparameter, in Bezug auf Nachhaltigkeitsaspekte und notwendige Anpassungen an den Klimawandel entlang ihrer Wertschöpfungskette
- Vermeidung von Nahrungsmittelverlusten beim Anbau, Transport, bei der Herstellung sowie im Konsumbereich (wo immer noch die höchsten Verluste auftreten)
- Verbraucherbildung – Zusammenhänge Klima-/Ressourcenschutz und gesunde, nachhaltige Ernährung, wahre Kosten der Erzeugung und Herstellung von Lebensmitteln, Leistungen der Landwirtschaft für Ökosysteme
- Übernahme der Kosten für Landwirt*innen zur Nachhaltigkeitsbewertung in der Landwirtschaft, etwa die Nutzung der Regionalwert-Leistungsrechnung.[13]
5. Preissteigerungen bei Rohware und Getreideprodukten - die Folgen und Maßnahmen zur notwendigen Sicherung regionaler Versorgungsstrukturen
Wahre und faire Preise
Der Auszahlungspreis für Getreide, ob ökologisch oder konventionell erzeugt, muss fair und somit für die unterschiedlich strukturierten Erzeugerbetriebe existenzsichernd sein. Notwendiger Weise müssen die betrieblichen ökologischen, sozialen und regionalökonomischen Leistungen der Landwirt*innen für Gesellschaft und Umwelt eingepreist werden, wenn auch morgen noch verlässlich Getreide unter den Herausforderungen des Klimawandels erzeugt werden soll. Preise - besonders in der aktuellen Krise – die über die tatsächlichen Kostensteigerungen hinaus im Handel angesetzt werden, sind hingegen kontraproduktiv, weil sie notwendige langfristige und faire Kooperationen entlang kurzer Wertschöpfungsketten gefährden.
Angesichts der wachsenden multiplen Krise sind kurze, verlässliche, nachhaltige Versorgungsketten mehr denn je von Bedeutung. In vielerlei Hinsicht stärken sie die Sicherheit der Ernährung in den Regionen. Das aktuell ein Teil der Verbraucher*innen, aufgrund fehlender Informationen und Sparkampagnen vieler Medien – trotz vorhandener finanzieller Mittel – am falschen Ende spart und grade damit die eigene „Lebensversicherung“ gefährdet ist fatal. Fatal ist ebenso, dass Verbraucher*innen, die nur über sehr geringe finanzielle Mittel verfügen, nicht in Lage sind, sich mit gesunden, regional und nachhaltig erzeugten Lebensmitteln (einschl. Brot und Backwaren) zu versorgen!
Daraus ergibt sich aktuell die Situation, dass der Handel mit ökologisch erzeugten und hergestellten Lebensmitteln sowie die Betriebe des Lebensmittelhandwerks mit zweistelligen Umsatzeinbußen, bei gleichzeitig wachsenden Kosten im Bereich Energie, Personalkosten und Rohstoffen, zu kämpfen haben. Gewinner sind große Handelskonzerne, die ohnehin schon über eine hohe Marktmacht verfügen. Aus diesem Konzentrationsprozess entstehen Risiken, die bereits bestehende Krisen verschärfen können.
Der Schriftsteller und Sozialphilosophen John Ruskin, hat in seinem Werk „Gesetz der Wirtschaft“ kluge Anmerkungen zum Sparverhalten gemacht. In enger Anlehnung an seine Aussage sei – besonders aktuell – daran erinnert, welche Auswirkungen dies hat: Es gibt kaum etwas auf dieser Welt, das nicht irgendwer vermeintlich billiger produzieren und ein wenig schlechter machen könnte. Menschen, die sich nur am Preis orientieren, werden – oft unbewusst – Beute und Opfer dieses Prinzips.[14]
Dass diese Verkettungen von Sparverhalten dazu führen, dass regionale Strukturen und damit Betriebe der Landwirtschaft und Lebensmittelherstellung verschwinden, die für die lokale/regionale Versorgungssicherheit von wachsender Bedeutung sind, muss – seitens Politik, Verwaltung, Medien und allen die noch dazu beitragen können – gestoppt werden! Zu den ersten Schritten gehören: eine Bewusstsein fördernde Aufklärung, eine öffentliche Debatte und die überfällige Entwicklung einer Gesamtstrategie zur Sicherung der Versorgung aller Einkommensgruppen mit gesunden, umfassend nachhaltig erzeugten und hergestellten Lebensmitteln – auf Grundlage des Standes von Forschung und Praxiswissen. Dies ist insbesondere Aufgabe der Ministerien für Wirtschaft, Finanzen, Landwirtschaft, Umwelt- und Klimaschutz.
6. Erzeugung von Speise- und Futterweizen als Teil einer Gesamtstrategie zur Ernährungssicherung
In Bezug auf den Anbau und die Verarbeitung von Weizen steht ganz oben auf der Liste der notwendigen Veränderungen und der Entwicklung einer ‚Gesamtstrategie zur Förderung und Sicherung gesunder, nachhaltiger Ernährung‘, das Verhältnis der drei Marktsegmente, in die das in Deutschland geerntete Getreide vermarktet wird. Derzeit sieht das Verhältnis (gerundet) so aus: 60 % geht ins Tierfutter, 20 % in die industrielle Verwertung (dazu gehört auch die Energiegewinnung aus Getreide) und 20 % in die menschliche Ernährung.
Hinsichtlich der wachsenden Hunger- und Klimakrise ist das genannte Verhältnis aus ethischen und humanitären Gründen unhaltbar und gegenüber den jetzigen sowie nächsten Generationen ein unverantwortlicher Zustand.
Um das Verhältnis Futtergetreide zu Backweizen zu verschieben, ist von großer Bedeutung, dass die damit einhergehende Reduzierung der Tierzahlen nicht – wie aktuell – durch das Verschwinden weiterer Höfe sowie durch den verstärkten Import von Fleisch (etwa durch das geplante Freihandelsabkommen CETA) realisiert wird. Der Umbau der Tierhaltung muss durch eine tiergerechte Haltung zu einer Verbesserung der Tiergesundheit führen und sollte an die Bindung an betriebliche Futtergrundlagen und verfügbare Flächen zur Ausbringung von Wirtschaftsdünger geknüpft werden. Selbstverständlich muss dieser Umbau der Tierhaltung politisch unterstützt und gemeinsam mit den Bäuerinnen und Bauern gestaltet werden. Er ist finanziell sowie durch breit angelegte, motivierende Kampagnen und Bildungsangebote, zur Erhöhung der Bereitschaft in der Bevölkerung bei diesem Umbau mitzugehen, zu fördern.
Die Ausweitung des Anbaus von Speiseweizen zu Lasten von Futter- und Energiegetreide sollte auf Grundlage des Standes des Wissens in einer Form erfolgen, die nicht zusätzlich dazu beiträgt, die Ernährungssicherheit von morgen zu gefährden. Eine weitere Übernutzung unseres Naturkapitals (mineralische Energiereserven, Biodiversität, Bodenfruchtbarkeit, Süßwasserverfügbarkeit, Luftqualität, biogeochemische Kreisläufe) und die Forcierung der Klimakrise können und müssen unterbleiben.
Zu einer Gesamtstrategie gehört auch, dass die von Hunger betroffenen Länder nicht in Abhängigkeiten von Lebensmittelimporten gehalten werden dürfen, sondern dass dort – im besten Falle durch qualifizierte Hilfe zur Selbsthilfe – ebenfalls regionale, nachhaltige und kulturell angepasste, resiliente Versorgungssysteme entstehen. Kurzfristig jedoch kann und sollte Deutschland mehr Speiseweizen erzeugen und exportieren, um dazu beizutragen, die Not der Menschen in den Ländern zu lindern, die von wachsender Hungernot betroffenen sind. Dies ist ebenfalls wichtig, um Putins Strategie (zu der auch der massive Ausbau von riesigen Getreidelagern in Russland gehört) nicht aufgehen zu lassen, global geopolitisch Einfluss auf die Nahrungsmärkte zu gewinnen.
Ein Grundappell aus aktuellem Anlass
Ohne Betriebe des Lebensmittelhandwerks – Schlachtbetriebe, Metzgereien, Molkereien, Mühlen, Bäckereien, Gemüseschälbetriebe, Safthersteller, regionale Brauereien, etc. – wird es morgen keine nachhaltigen und resilienten Versorgungsstrukturen und Wertschöpfungsketten in den Regionen mehr geben. Deshalb müssen bei allen politischen Entscheidungen, die direkt und indirekt die Existenz und die Weiterentwicklung dieser Betriebe sowie die Möglichkeit der Neugründungen betreffen, zwingend einbezogen werden.
Das betrifft zahlreiche Entscheidungen. Ganz aktuell den Bereich Energieversorgung und die Energiepreispolitik. Bei der Subventionierung der Energie durch das Energiekostendämpfungs-programm (EKDP) wurde ausgerechnet die Herstellung von Brot und Backwaren ausschlossen, die ohne Backöfen und Kühlanlagen schwerlich auskommt. Diese Entscheidung ist nachzubessern! Hier könnte ein Extra-Zuschussprogramm für Bäckereien, auf Grundlage des Temporary Crisis Framework der EU, die drohende Gefahr von Betriebsaufgaben im Bäckereihandwerk durch drastisch angestiegene Energiekosten abwenden. Generell sollte gelten, keine Maßnahmen zu beschließen die einseitige Wettbewerbsvorteile schaffen ohne gesellschaftliche Gegenleistungen zu liefern.
Zu den wichtigen Einflussfaktoren gehört selbstverständlich die Steuerpolitik. Die Steuerung der Strukturen im Bereich der Land- und Lebensmittelwirtschaft über die Steuerpolitik, ist für den Erhalt und Ausbau regionaler, nachhaltiger Strukturen von zentraler Bedeutung. Deshalb muss endlich der Faktor Arbeit, der bekanntlich im Handwerk überproportional ins Gewicht fällt und an den eine Vielzahl gesellschaftlicher Leistungen geknüpft ist, finanziell entlastet werden. Stärker einzubeziehen sind hingegen: a. Kapital, z.B. Übergewinne durch Spekulationen auf Nahrungsmittel, die überdies volkswirtschaftliche Schäden verursachen und b. die ökologischen und sozialen Kosten der Erzeugung und Herstellung von Lebensmitteln, die indirekt von der heutigen und zukünftigen Gesamtgesellschaft getragen werden.
Die Autor*innen und Adressat*innen
Die Stellungnahme „Weizen Ernte 2022– ein Appell aus aktuellem Anlass!“ des unabhängigen Berufsverbandes Die Freien Bäcker e.V. richtet sichan Politiker*innen auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene, Bäcker*innen, Müller*innen, Landwirt*innen, Berufsverbände, interessierte Verbraucher*innen und die Öffentlichkeit.
V.i.S.d.P.
Die Freien Bäcker e.V:
30890 Barsinghausen
Bergstr. 50
Anke Kähler (Vorstand)
Vereinsregister Hannover VR-Nr. 201420
[1] Der FAO Food Price Index ist ein Nahrungsmittel-Preisindex der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) der Vereinten Nationen. Er erfasst die Entwicklung der Weltmarktpreise von 55 Agrarrohstoffen und Nahrungsmitteln. https://de.wikipedia.org/wiki/FAO_Food_Price_Index
[2] global agriculture News, 19.05.2022, IPES-Food: Lebensmittelpreis- und Hungerkrise wäre vermeidbar https://www.globalagriculture.org/whats-new/news/en/34614.html
[3]https://www.fao.org/worldfoodsituation/foodpricesindex/en/
[4] Statista Tabelle: Täglicher MATIF-Weizenpreis an der Pariser Terminbörse vom 02. Februar bis 18. August 2022
[5]https://www.ufz.de/index.php?de=37937
[6]https://www.landwirtschaftskammer.de/landwirtschaft/ackerbau/duengung/nitratdienst/2022-08-nitrat.htm
[7] Forschungsprojekt „Prozessverständnis von CO2-induzierten Mechanismen für Ertrag und Ertragsqualität ausgewählter Weizengenotyen im Feld“ siehe: https://klimawandel.uni-hohenheim.de/projekt-p4 und https://gepris.dfg.de/gepris/projekt/200794346?context=projekt&task=showDetail&id=200794346&
[8] vgl. https://ethz.ch/de/news-und-veranstaltungen/eth-news/news/2018/08/duerre-erhoeht-CO2-Konzentration.html
[9] Backqualität von Weizenmehl – Funktionelle Untersuchungen und stoffliche Ursachen, Eva Müller, S. 16 https://mediatum.ub.tum.de/doc/1421567/1421567.pdf
[10] Zusatzinfo: Nur etwa jedes zehnte Brot, das in Deutschland gekauft wird, ist ein Vollkornbroten (10,5 %) Quelle: https://www.brotinstitut.de/brotinstitut/zahlen-und-fakten-zu-brot. Das bedeutet, grade die Gehalte an Ballaststoff und an ernährungsphysiologisch wertvollen Vitaminen (B-Vitamine) und Mineralstoffen (wie Kalium und Eisen), die hauptsächlich in den Randschichten des Getreides vorkommen, sind bei Backwaren aus Auszugsmehl signifikant geringer.
[11]https://www.mri.bund.de/fileadmin/MRI/Institute/GE/AiF_17759_N_-_FEI-Kurzbericht_als_Publikation.pdf
[12] Forschungsprojekt BackProg: Stickstoffdüngereinsparung bei Winterweizen durch verbesserte Vorhersage der Backqualität
[13]https://www.regionalwert-leistungen.de/leistungsrechnung/
[14] Original Zitat: „Es gibt kaum etwas auf der Welt, das nicht irgend jemand ein wenig schlechter machen kann und etwas billiger verkaufen könnte, und die Menschen, die sich nur am Preis orientieren, werden die gerechte Beute solcher Menschen.“ John Ruskin