Mogelpackung mit „Tradition“?

Diskurs der neuen Leitsätze für Brot und Kleingebäck eröffnet

Am 6. Mai wurde die Neufassung der ‚Leitsätze für Brot und Kleingebäck‘ im Bundesanzeiger veröffentlicht. Neu in die Leitsätze aufgenommen hat die Deutsche Lebensmittelbuch-Kommission (DLMBK) eine Definition für „traditionelle Rezeptur“ und „traditionelle Herstellung“ (Punkt 1.4.2).

Wird darauf hingewiesen, dass eine Brot- oder Kleingebäck-Rezeptur „traditionell“ ist, bezieht sich dies auf die verwendeten Zutaten und die Zusammensetzung. Der erste Satz der Definition, „Lebensmittelzusatzstoffe und zugesetzte Enzyme werden nicht verwendet“, erweckt kurz den Eindruck, hier wird dem Verständnis von Verbraucher*innen in Bezug auf traditionelle Backwaren entsprochen.

 


Holzofen Wurzelbrot

Doch es folgt unmittelbar „Ausgenommen sind…“.  Die aufgelisteten Ausnahmen machen deutlich, was der erste Satz verschweigt. So können nach  einer „traditionellen Rezeptur“ Stoffe verwendet werden, „die üblicher Bestandteil eines zusammengesetzten Lebensmittels sind, das als Zutat verwendet wird (z. B. Rieselhilfsstoff in Speisesalz)“. Ebenso Stoffe mit der Begründung, dass sie „für den Produktcharakter (z. B. Natronlauge bei Laugengebäck) oder aus technologischen Gründen (z. B. Ascorbinsäure) unabdingbar sind“.  Bei diesen Stoffen handelt es sich um Zusatzstoffe in Zutaten und um Verarbeitungshilfsstoffe. Somit können gemäß der neuen Leitsätze „traditionelle“ Brote und Kleingebäcke auch mit den biotechnologischen Alleskönnern - mit exogenen Enzymen, die zahlreiche Funktionen von Zusatzstoffen mit E-Nummern übernehmen ohne deklariert werden zu müssen - hergestellt werden. Entspricht dies der Vorstellung von Rezepturen, die von Generation zu Generation weiter gegebenen wurden?

Wie sieht es mit der „traditionellen Herstellung“ aus? Sie soll gemäß der Definition „in einem durchgehenden, nicht durch Tiefkühlung oder andere Verfahren zum Zweck der Haltbarmachung unterbrochenen Prozess im selben Unternehmen erfolgt. Die Formgebung erfolgt nicht rein maschinell. Der Backprozess im Ofen wird nicht unterbrochen.“ Danach dürfte es zumindest industriellen Herstellern schwer fallen, Brote und insbesondere Kleingebäcke mit dem Aufdruck „aus traditioneller Herstellung“ zu versehen. Doch auch Bäckereien, die in die Handwerksrolle eingetragen sind, unterbrechen in der einen oder anderen Weise den Herstellungsprozess – auch um aus guten Gründen die „traditionelle Nachtarbeit“ zu verbannen.

Fazit

Wer soll wie die Einhaltung dieser Regelung prüfen? Sollen auch Ausweichoptionen, also synonym verwendete Begrifflichkeiten, wie etwa „überlieferte Rezeptur“ oder „klassische Herstellung“ reguliert werden?

Die Erwartung, dass mit der Definition „traditionelle Rezeptur“ und „traditionelle Herstellung“ Betriebe, die in die Handwerksrolle eingetragen sind, echte Vorteile gegenüber industriellen Backwarenproduzenten erlangen, läuft nach unserer Einschätzung weitgehend ins Leere.

Die Vermutung liegt nahe, dass „Tradition“ definiert wurde, um den Begriff „Handwerk“ aufzupolieren. Doch die Mogelpackung „traditionelle Rezeptur“ macht deutlich, wie sich die technologische Abhängigkeit auch vieler Hersteller*innen, die in die Handwerksrolle eingetragen sind, auswirkt. Die Abhängigkeit von biochemischen Werkzeugen, die mit Hilfe von Mikroorganismen produziert werden, die oftmals gentechnisch verändert sind, wird oft gar nicht bemerkt oder verdrängt. Mit der Verwendung von Zusatz- und Verarbeitungshilfsstoffen ging und geht Wissen über komplexe Zusammenhänge bei der Lebensmittelherstellung und handwerkliches Können verloren. Treiber dieser Entwicklung war und ist die industrialisierte Produktionsweise, die aus ihren systemischen Prinzipien heraus auf die unablässige Steigerung der Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit und damit auf Verdrängungs- und Konzentrationsprozesse fixiert ist.

Sich als Handwerker*in gegen dieses allgegenwärtige System zu stemmen verlangt eine bewusste Entscheidung und den Wagemut, andere Wege zu gehen. Wir sind uns sicher, dass es sich lohnt, denn: Handwerkliches Können, ganzheitliches Wissen, Denken und Handeln wird in Zukunft mehr denn je gebraucht! Die Befähigung Brote und Backwaren nach der Slow Food Philosophie „gut, sauber, fair“ aus nachhaltig erzeugten, regional angepassten Rohstoffen herzustellen, erfährt eine hohe Wertschätzung. Überdies stellt dieses Vermögen eine grundlegende Voraussetzung für den Erhalt und Aufbau sicherer Versorgungsstrukturen dar, die von Widerstandsfähigkeit in Krisensituationen, von Selbstbestimmung, Nähe, Verlässlichkeit, Transparenz und ökonomischer Nachhaltigkeit geprägt sind.

So ist es wohl ein Schelm, dem bei der Lektüre der Definition von ‚Tradition‘ in den neuen Leitsätzen der Ausspruch des österreichischen Komponisten Gustav Mahler in den Sinn kommt: "Was ihr Theaterleute eure Tradition nennt, das ist nichts anderes als eure Bequemlichkeit und Schlamperei."

Pressekontakt

Die Freien Bäcker - Zeit für Verantwortung e.V.
Anke Kähler - Vorstandsvorsitzende
Bergstr. 50
30890 Barsinghausen
T:  +49 (0)5105  520 220
Mail: info@die-bäcker.org

www.die-freien-baecker.de

Anhang

Auszug aus der Bekanntmachung der Neufassung von Leitsätzen des Deutschen Lebensmittelbuches vom 1. April 2021

1.4.2 Traditionelle Rezeptur/Traditionelle Herstellung

Bei  einem  Produkt im  Sinne dieser  Leitsätze  sind  Ergänzungen  in  der  Bezeichnung  und/oder  Aufmachung  des Lebensmittels, die auf eine „traditionelle Rezeptur“ hinweisen, üblich, wenn sich dies auf die Zutaten und die Zusammensetzung bezieht.

Lebensmittelzusatzstoffe und zugesetzte Enzyme werden nicht verwendet. Ausgenommen sind lediglich solche, die üblicher Bestandteil eines zusammengesetzten Lebensmittels sind, das als Zutat verwendet wird (z. B. Rieselhilfsstoff in Speisesalz) oder für den Produktcharakter (z. B. Natronlauge bei Laugengebäck) oder aus technologischen Gründen (z. B. Ascorbinsäure) unabdingbar sind. Bei einem Produkt im Sinne dieser Leitsätze sind Ergänzungen der Bezeichnung und/oder Aufmachung des Lebens-mittels, die auf „traditionelle Herstellung“ hinweisen, nur üblich, wenn darüber hinaus die Herstellung in einem durch-gehenden, nicht durch Tiefkühlung oder andere Verfahren zum Zweck der Haltbarmachung unterbrochenen Prozess im selben Unternehmen erfolgt. Die Formgebung erfolgt nicht rein maschinell. Der Backprozess im Ofen wird nicht unterbrochen.